Niemals freie Sicht

Brain Fog: Ein Leben im Nebel.

Konzentrationsschwäche, Verwirrtheit, Antriebslosigkeit, Vergesslichkeit sind klassische Symptome für „brain fog“. Ein Phänomen, das nicht erst seit Long Covid verbreitet ist, aber verharmlost oder nicht ernst genommen wird. Wie es sich tatsächlich anfühlt, mit Gehirnnebel zu leben, welche Auswirkungen im Studien- oder Arbeitsalltag sichtbar werden und wie man dagegen vorgehen kann, verraten die Uni-Wien-Studierenden Carmen, Chris und Sebastian.

Obwohl der Begriff „brain fog“ sich nach Social-Media-Slang anhört, wurde er bereits im Jahr 1853 in einem Zeitungsartikel in Pennsylvania, USA verwendet. In den 1990er-Jahren tauchte er dann vermehrt in wissenschaftlichen Studien auf, und zwar im Zusammenhang mit Menschen, die ihre Erfahrungen mit chronischer Müdigkeit beschrieben haben. Wie sieht es heute aus?

 „Ich bin das erste Mal durch eine Uni-Prüfung geflogen, eine sehr, sehr wichtige Prüfung, und werde sie im kommenden Juni wiederholen müssen. Dieser Moment war der Wake-up-Call für mich“, erzählt die 19-jährige Lehramtsstudentin Carmen. Sie leidet schon eine Weile an Brain Fog und schafft es daher bei Vorlesungen kaum, Professor*innen auf Anhieb zu folgen. Bei der späteren Prüfungs-vorbereitung fällt es ihr dadurch umso schwerer, sich den Stoff des ganzen Semesters einzuprägen: „Meistens ist es so, dass ich beim Lernen denke, dass es ganz gut läuft. Beim Wiederholen merke ich dann, dass ich alles vom Vortag wieder komplett vergessen habe. Mein Gehirn kommt wegen meiner Konzentrationsstörungen bei langen und komplizierten Sätzen einfach nicht so schnell mit. Ich muss Texte beim Lesen oder Online-Vorlesungen beim Anschauen daher ständig wiederholen. Ich habe sogar vor der Zeit der Online-Lehre Lehrveranstaltungen selbstständig aufgenommen, um sie mir später so oft es geht anhören zu können. Ich bin mental durch das alles so unglaublich ausgelaugt, dass ich jeden Tag sehr früh ins Bett gehe“, erklärt sie.

Brain Fog ist kein medizinisch definierter Begriff, sondern beschreibt lediglich einen mentalen Zustand, der von andauernder Konzentrationsschwäche, Verwirrtheit, Antriebslosigkeit und Vergesslichkeit geprägt ist. Die Symptome werden häufig verharmlost oder gar ignoriert. Brain Fog hat Carmen bereits während der Schulzeit geplagt. Sie hat es aber meistens geschafft, mit weniger Aufwand und dementsprechend mittleren bis schlechten Noten durchzukommen. Vor dem Lehramtsstudium hat sie Europäische Ethnologie studiert und Prüfungen auch hier, trotz des Gehirnnebels, bestehen können.

„Ich bin mental durch das alles so unglaublich ausgelaugt, dass ich jeden Tag sehr früh ins Bett gehe.“
Carmen (19), Lehramtsstudentin

Sie stellt klar, dass die mangelnden Konsequenzen durch positive Noten dazu beigetragen haben, sich leichter mit ihrer schwierigen mentalen Lage abzufinden. Die bittere, aber notwendige Wende kam für Carmen mit dem Beginn des aufwendigeren Lehramtsstudiums und der ersten gescheiterten Prüfung.

Rückblickend meint sie nun: „Für mich persönlich war das alles lange Zeit Normalität. Dass es sich um ein ernstes Problem handelt, habe ich wirklich erst vor Kurzem realisiert. Neben der versauten Prüfung wurde ich an der Uni auch schon wegen Deadlines bei Arbeitsaufträgen ermahnt. Den Kurs habe ich zwar geschafft, aber wie immer nur das Minimum eingereicht. Ich bin jetzt auch an einem Punkt angelangt, wo ich aktiv gegen das Ganze ankämpfen will.“ Neben den Auswirkungen auf das Studienleben, erwähnt sie auch, dass die Antriebslosigkeit sie dazu gebracht hat, sich von all ihren Freundes-gruppen zu distanzieren. Sie hatte zu den meisten nur dann Kontakt, wenn sie zuerst angeschrieben wurde, bemüht sich nun aber bewusst, sich wieder öfter selbst bei anderen zu melden.

„Als würden die Informationen durch einen Filter gehen. Einiges dringt zu mir durch, anderes nicht.“  
Chris (26), Social-Media-Manager

Auch der 26-jährige Social-Media-Manager Chris kämpft seit geraumer Zeit mit Brain Fog. Er hat vor seinem Job bei einem Start-up Publizistik und Kommunikationswissenschaft studiert. Ihm ist ebenso bereits während des Studiums aufgefallen, dass er im Alltag oft ganz plötzlich in eine Art geistige Abwesenheit gerutscht ist. Er erinnert sich: „Mir ist aufgefallen, dass mein Hirn in vielen Lehrveranstaltungen wie blockiert war. Ich habe zwar alles um mich herum wahrgenommen, aber in extremen Phasen irgendwie nichts richtig aufnehmen können. Es war so, als würde mein Kopf die Informationen, die ich dort erhalte, nicht verarbeiten wollen. Ich konnte mich, egal, wie sehr ich es wollte, nie lange auf ein Thema konzentrieren. So war es auch beim Lernen. Nach fünfzehn Minuten war meine Konzentrationsfähigkeit einfach weg!“ Auch in der Arbeitswelt merkt Chris, dass er phasenweise enorm unfokussiert seinem Alltag nachgeht: „Es ist schon so oft vorgekommen, dass mir Kolleg*innen etwas erzählen und ich in der Situation einfach mental nicht ganz anwesend bin. Das passiert mir leider auch in ganz wichtigen Momenten, wenn beispielsweise ein Projekt fertig werden muss. Ich würde aber nicht behaupten, dass ich durchgehend an Brain Fog leide.

Es kommt trotzdem wahnsinnig oft vor, dass ich in einem Meeting sitze, jemand mit mir redet und ich das Gesagte gar nicht weiterverarbeite. Als würden die Informationen durch einen Filter gehen. Einiges dringt zu mir durch, anderes nicht. Der Nebelschleier verstärkt sich bei mir vor allem dann, wenn ich in einer vermeintlichen Gefahren- bzw. Stresssituation bin, die mich nervös werden lässt.“

Was bringt es schon, zwei Stunden zu sitzen und sich nichts zu merken?

 „Den Begriff Brain Fog habe ich vorher nicht wirk-ich gekannt, aber als ich mehr über die Symptome gelesen habe, konnte ich mich klar damit identifizieren“, sagt Sebastian. Er ist 26 Jahre alt und arbeitet seit Jahren als Maschinentechniker. Er hat mitten in der Pandemie begonnen, Philosophie zu studieren. Die Kombination aus Online-Lehre und Brain Fog tut ihm allerdings gar nicht gut. Er erklärt, dass er den Lehrveranstaltungen besonders durch den digitalen Studienalltag kaum ausreichend Aufmerksamkeit schenken kann: „Meine enormen Konzentrationsprobleme sorgen dafür, dass ich immer wieder abschweife, aufstehe und anfange, ganz andere Dinge in der Wohnung zu machen. Hilft auch nicht, dass man dabei alles via Handy oder Laptop erledigt.“ Bei Sebastian löst der Nebel im Gehirn vor allem Motivationslosigkeit aus: „Ich muss für das Studium viel lesen, aber es fällt mir so schwer, mich gescheit auf die Texte zu konzentrieren. Ich gehe sie manchmal echt vier oder fünf Mal durch und habe sie noch immer nicht ganz erfasst. Ich drehe mich einfach im Kreis. An ganz schlimmen Tagen mit Brain Fog habe ich das Lernen einfach abgebrochen und am nächsten Tag mein Glück versucht. Was bringt es schon, zwei Stunden zu sitzen und sich nichts zu merken?“

Manchmal hat Sebastians Gehirnnebel sogar für Blackouts gesorgt. Er erinnert sich: „Ich habe schon Prüfungen gehabt, wo ich beim Lesen der Angabe zuerst voll neben der Spur gestanden bin und ganze fünfzehn Minuten der Gesamtzeit versäumt habe, weil ich mich selbst und das Erlernte in meinem Kopf nicht finden konnte.“

Werden die Beschwerden ernst genug genommen?

Was Brain Fog so heikel macht, ist, dass es sich dabei im Grunde um ein rein subjektives Krankheitsbild handelt. Betroffene selbst merken zwar, dass etwas nicht stimmt, aber durch fehlende konkrete Diagnosemöglichkeiten kommt es von außen häufig zu Verharmlosungen oder Desinteresse.

Social-Media-Manager Chris meint dazu, dass es nach hinten losgehen kann, in der Arbeitswelt Themen wie Konzentrationsprobleme anzusprechen. Auch während des Studiums hatte er nie das Gefühl, den ausreichenden „safe space“ für ein derartig offenes Gespräch zu haben: „Professor*innen und Kursleiter*innen haben sich nie die Zeit genommen, mit uns Studierenden über den Stress zu reden, den ein Studium verursachen kann. Ich glaube, es interessiert sie auch gar nicht. Not part of their job. Zumindest war das immer mein Eindruck. Es kann sein, dass es bei kleineren Gruppen anders ist.“  Er hat auch im Privatleben mit niemandem über die mentale Belastung durch Brain Fog gesprochen. Er glaubt, dass das Phänomen genau wie Angststörungen und Depressionen von vielen ohnehin nicht ernst genug genommen wird.

Carmen hat im Vergleich dazu bereits in der Schule versucht, mit ihrem Umfeld zu teilen, was in ihrem Kopf passiert. Sie hat zum Beispiel ihrer VWA-Betreuerin erzählt, dass sie massive Konzentrationsprobleme habe. Diese habe zwar zugehört, der heute 19-jährigen Studentin aber keinerlei Hilfe angeboten. Carmen erwähnt: „Sie hat sogar weiterhin extrem viel Druck wegen der Deadlines ausgeübt und natürlich auch keine Strategien vorgeschlagen, mit denen ich mir vielleicht leichter tun würde.“ Grundsätzlich ist sie wie Chris der Meinung, dass Unbetroffene den Zustand gar nicht nachempfinden können. Sie hat schon oft Aussagen wie „Ach, du musst dich doch einfach nur mehr bemühen“ zu hören bekommen. Sebastian hat seinem engsten Kreis von seinen Schwierigkeiten mit Brain Fog erzählt und dabei erwähnt, dass er sich auf ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, Anm.) testen lassen möchte. Seitens seiner Familie kamen allerdings Antworten wie: „Nein, das ist nicht notwendig. Das ist ja nur eine normale Konzentrationsschwäche. Du solltest einfach mehr Sport machen!“ Sebastian würde sich jedoch freuen, wenn er endlich wüsste, was die Ursache für das Ganze ist, und demensprechend besser dagegen vorgehen könnte.

„Ich wäre froh, wenn ich wüsste, was los ist. Darum möchte ich mich auf ADS testen lassen.“ 
Sebastian (26), Maschinentechniker und Philosophiestudent

Was kann Brain Fog auslösen?

Auf die Idee, dass ADS die potenzielle Ursache sein könnte, hat Sebastian eine Freundin gebracht, die Psychologie studiert. Sie hat einen Test vorgeschlagen, als er ihr seine Schwierigkeiten schilderte.  Er hat ihn zwar bisher nicht gemacht, ist aber froh über die Möglichkeit, vielleicht Hilfe zu bekommen. Chris vermutet, dass es bei ihm eine Kombination aus einer möglichen Angststörung, Stress oder Vitaminmangel sein könnte. Carmen hat bisher nicht über konkrete Ursachen nachgedacht, will sich nun aber besser darüber informieren und sich, wie Sebastian, auf ADS testen lassen. Grundsätzlich wird bislang vermutet, dass die Symptome durch winzige Entzündungen im Gehirn entstehen. Sie sollen dann auftreten, wenn es aus dem Gleichgewicht gerät. Ursachen dafür können Stress, Nährstoffmangel, Bewegungsmangel, Schlafmangel, (mentale) Erkrankungen, Lebensmittelunverträglichkeiten, nicht für den Körper geeignete Medikamente oder schädliche Einflüsse aus der Umwelt sein. Brain Fog kann demnach als Hinweis für ernsthafte Erkrankungen oder weniger schwerwiegende Defizite betrachtet werden. Für den Anfang könnte die Änderung von Lebensgewohnheiten hilfreich sein: früher schlafen gehen, regelmäßig Sport treiben und eine ausgewogene Ernährung. Den einzigen richtigen Ratschlag, den man allerdings schlussendlich als Nichtmediziner*in erteilen kann: Sich bloß nicht einreden (lassen), mit Symptomen leben zu müssen, die die eigene Lebensqualität verringern, und aktiv nach den Ursachen für den Nebel im Gehirn zu suchen. Als ersten Schritt sollte man sich hierfür auf jeden Fall einen Termin bei der Hausärztin/dem Hausarzt ausmachen. Es gibt in Österreich nämlich leider keine Fachärzt*innen oder Institutionen, die sich auf Brain Fog spezialisieren. Als Alternative könnte man Expert*innen für ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom) aufsuchen, da sich Brain Fog und ME/CFS in ihrer Symptomatik überschneiden. Der Neurologe Dr. Michael Stingl zählt zu den wenigen ME/CFS-Expert*innen in Österreich und hat Brain Fog schon in der Öffentlichkeit thematisiert. 


Text von Šemsa Salioski
Bilder: Unsplash



Ähnliche News

21.06.2022 

„Ich habe heute leider keinen Job für dich“

Kennst du das: Du schickst eine Bewerbung nach der anderen und bekommst nur Absagen oder gar keine Antwort? Diese Erfahrungen sind frustrierend, doch durchhalten lohnt sich allemal. Karriereberaterin Silke hat Tipps zum Umgang mit Rückschlägen im Bewerbungsprozess.

Mehr
Silke Kaufmann | Uniport
18.07.2022 

Zeit ist Gold

Eine Sache, die wie Castingshows und Hüfthosen vielleicht in den 2000ern angesagt war, aber heute definitiv fragwürdig ist: Hustle Culture. Aussagen wie „Ich habe schon wieder das Wochenende durchgearbeitet“ bekommen – jedenfalls in meiner Bubble – schon lange kein Schulterklopfen mehr. Warum 32 die neuen 40 Stunden sind und kürzer arbeiten nicht gleich weniger bedeutet, liest du hier. 

Mehr
Anna Gugerell